10/19/2015

Zeichnen können - zeichnen lernen


Die Wahrheit hinter der Begabung

Um das Thema "Zeichnen können" ranken sich diffuse Ideen von Genie und Begabung. "Wer´s nicht kann, sollte es bleiben lassen, bzw. entweder man hat es oder eben nicht." Das ist für Anfänger, unabhängig vom Alter, nicht gerade ermutigend! Geniekult vernebelt den Zusammenhang zwischen Ursache (Übung) und Wirkung (Fortschritte machen), der sich so gut wie immer einstellt, wenn man sich dem Prozess des Lernens hingibt. Bei anderen spezialisierten Fähigkeiten wie Sport, Musik oder Fremdsprachen ist es selbstverständlich, dass nur Übung zum Ziel führt. Aber in der bildenden Kunst soll der Meister vom Himmel fallen? 

   Begabung ist nur so etwas wie eine Starthilfe. Auch die Begabtesten müssen üben, wenn sie langfristig mehr als mittelmäßige Ergebnisse erreichen wollen. Die Schattenseite des Geniekults ist, dass viele Nicht-Genies daran zweifeln, jemals ernstzunehmende Fortschritte machen zu können. Sogar für die (selbsternannten) Genies kann diese Ideologie hinderlich sein, da sie dadurch dazu verführt werden können, nicht zu üben.

Über das Lernen

Anerkennen Sie, dass Lernen immer ein krisenhafter Prozess ist. Sie müssen ja von hilfreichen Routinen absehen, um tatsächlich Neues zu schaffen. Sie begeben sich auf ungesichertes Gelände, und das spiegelt sich auch im inneren Monolog wieder.

   Dass ein Projekt glatt von der Idee zur Abgabe verläuft, ist eher die Ausnahme als die Regel. Es ist nur möglich, wenn Sie in früheren Projekten Arbeitsrutinen entwickelt haben. Sie lernen aus eigenen Fehlern am meisten. Die Lernkurve ist beim ersten Malen am steilsten. Stellen Sie sich also auf Fehler und Änderungen ein, und seien Sie unverzagt.

Flow I Wenn Sie dranbleiben, wird es leichter. Ein Hochgefühl kann sich beim Arbeiten einstellen. Der Begriff Flow ("Fließen, Rinnen, Strömen") bezeichnet das Gefühl der völligen Vertiefung und des Aufgehens in einer Tätigkeit, Schaffensrausch oder Funktionslust. Wenn sich der ersehnte Flow-Zustand einstellt, ist Inspiration leicht zu finden, und die Arbeit geht vielleicht von der Hand. Alles fügt sich wie magische Puzzleteilchen ineinander. Die Schwierigkeit besteht darin, in den Zustand des Flows hineinzukommen. "Drin sein" heißt, auf einer tiefen Ebene mit seinem Thema im Einklang zu sein.

   Wenn Sie Ihr Thema verinnerlicht haben, hat Ihre Blackbox Ihr Thema angenommen.

   Der Zustand der Flows hat etwas Magisches an sich. Man hat das Gefühl, von höheren Mächten geführt zu werden, von freundlichen Geistwesen neue Hinweise und Möglichkeiten gesendet zu kriegen.

   Um den Flow-Zustand zu erreichen, ist ständige Übung, Aufmerksamkeit und Pflege notwendig. Je mehr Sie zu einem Thema wissen und je besser Sie aufgelegt sind, umso leichter fällt es Ihnen, neues Wissen zu erlangen. Sie werden bemerken, dass der Zufall stets den Vorbereiteten trifft.

Disziplin und Leidenschaft I Trotz Rückschlägen nicht aufzugeben und durchzuhalten, erfordert Disziplin. Was für ein ekelhaftes Wort! Bisher ist uns Disziplin hauptsächlich von anderen zugemutet worden, daher der Beigeschmack des Zwangs. Wir wollen doch frei sein. Disziplinierung durch andere abzulehnen, führt nicht automatisch zu einem glücklichen Leben. Wer freiwillig lernt und arbeitet, muss sich selbst disziplinieren. Die Arbeit geht nicht immer leicht von der Hand, manchmal muss man sich durchbeißen. Lernen Sie, Frustration zu ertragen und weiterzumachen.

   Disziplin allein ist auch keine gute Voraussetzung. Die Grundlage jeder Beschäftigung sollte Ihr Wunsch sein. Sich zu etwas disziplinieren, was einem gar nicht liegt, bringt nichts. Sie werden trotz allem Fleiß nie so gut wie jene sein, die leidenschaftlich UND diszipliniert sind. Das richtige Maß zwischen Selbstdisziplin und Lockerheit zu finden, ist eine lebenslange Aufgabe freier Menschen.

   Ein bisschen Neigung zu Ihrem Tätigkeitsfeld ist schon Voraussetzung, sonst halten Sie es nicht durch. Nur aus Imagegründen ("Künstler sind cool!") Illustrator/in werden zu wollen, ist Unsinn. Wenn das Ihr Hauptmotiv ist, hören Sie besser gleich auf. Werden Sie Jurist, Arzt oder sonst "etwas Anständiges".

   Disziplinieren Sie sich nicht zu viel. Machen Sie Pause, machen sie Urlaub. Schlafen Sie ausreichend. Essen Sie gut. Bewegen Sie sich an der frischen Luft, und pflegen Sie Ihre Beziehungen. Amüsieren Sie sich ohne allzu krassen Selbstmissbrauch. Wenn das so trivial wäre, wie es klingt, gäbe es nicht LKW-Ladungen voller Selbsthilfebücher zu diesem Themen. Tun Sie es! Und arbeiten Sie weiter.

Das eigene Maß finden I Wenn Ihnen das bisher Gesagte zu schwammig und zu wenig programmatisch erscheint, liegt das daran, dass es für Kreativität keine fertigen Rezepte gibt. Die Menschen sind unterschiedlich, und jeder braucht etwas anderes, um optimal arbeiten zu können. Wir haben nicht alle dieselben Voraussetzungen. Wir nehmen die Welt unterschiedlich wahr und wählen unterschiedliche Strategien.

   Darum werden Sie bei vielen Übungen in diesem Blog immer wieder auf Ihre eigene Kompetenz verwiesen. Manche arbeiten vormittags besser, manche nachmittags. Manche brauchen mehr, manche weniger körperliche Bewegung, soziale Aktivitäten, Schlaf. Manche lieben Trubel um sich, manche brauchen die Ruhe. Was für den einen eine unerträgliche Belastung ist, ist für den andere anregend. Manche brauchen Strukturen von außen, andere fühlen sich davon eingeengt. Als Kreativer muss man ständig Entscheidungen treffen. für die es keine einfachen Regeln, keine Rezepte gibt. Kreative Arbeit beinhaltet viele erste male, für die es keine Routinen gibt. Das macht es ebenso spanend wie anstrengend.
  

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