10/17/2015

Subjektives Drama VS. objektives Drama


Ein Kleinkind macht erste unbeholfene Gehversuche auf einer Klippe, von der aus 150 Meter steil in den Abgrund geht. Gefährliche Waffen wechseln ihren Besitzer. Zwei Karatemeister werden in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt. Eine verführerische Frau schwebt lächelnd an einer Gruppe junger Männer vorbei. All diese Situationen haben eines gemeinsam: Sie sind objektiv dramatisch.

   In fast allen guten Comics gibt es allerdings zahlreiche Momente, die subjektiv dramatisch sind. Sie fesseln uns nur deshalb, weil wir etwas über eine Figur wissen, sie kennen und mögen und uns dafür interessieren, was mit ihr geschieht. Denn mit Comic-Charakteren verhält es sich ähnlich wie mit "echten" Menschen aus Fleisch und Blut: Sobald sie aus der anonymen Masse heraustreten, ein Gesicht bekommen und wir etwas über ihre Wünsche, Ängste, Hoffnungen, Ziele und Motivationen erfahren und vertraut sind mit ihren Stärken und Schwächen, wird es uns schwerfallen, ihnen gegenüber gleichgültig zu bleiben. Einen Menschen kennenzulernen, verändert unsere Wahrnehmung von allem, was derjenige tut, grundlegend.

     Eine Frau dabei zu beobachten, wie sie zögerlich ihre Wohnung verlässt, bringt uns erst einmal nicht unbedingt dazu, uns vor lauter Anspannung in der Armlehne des Sessels festzukrallen. Doch wenn wir wissen, das sie durch ein Trauma unter Agoraphobie leidet und alleine die Vorstellung, ihre Wohnung zu verlassen, eine Panikattacke mit Atemnot, Muskelkrämpfen, Herzrassen, Schwindel und Schweißausbrüchen bei ihr auslöst, werden wir die Szene mit anderen Augen betrachten. Zu wissen, das sie sich dieser für sie sehr quälenden Erfahrung aussetzt, weil sie keine andere Möglichkeit sieht, einen Serienmörder zu stellen, wird uns den Atem stocken lassen.

   Genauso wenig wird ein Protagonist, der eine Rede halten muss, zunächst wenig Anteilnahme in uns hervorrufen. Zu erfahren, dass es sich dabei um den König von England handelt, der seinem Volk während des Kriegs in einer Radioansprache Mut zusprechen muss, obwohl er so stark stottert, dass er zeitweise kein Wort herausbringt, lässt uns mitfiebern, genauso wie uns ein Charakter, der tanzen lernt, emotional berührt, wenn wir zuvor Zeuge davon geworden sind, wie unerträglich körperliche Nähe für einen Autisten wie ihn ist.

   Eine Geschichte, dessen Geschehen sich ausschließlich auf objektiv dramatischen Szenarien aufbaut, wird die Ereignisse und Effekte sowie deren Auswirkungen ins Unermessliche steigern müssen, um das Interesse des Leser nicht zu verlieren. Wirkliche emotionale Anteilnahme (abgesehen von möglichen Adrenalin-Schüben) wird sich ohne subjektiv dramatische Situationen nicht einstellen.


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