10/14/2015

Auf der suche nach einer Anleitung

Storyboardtheorien und Dramaturgiemodelle


Auf welcher Weise können dramaturgische Modelle helfen, eine gute Geschichte zu entwickeln und diese auch auf gelungene Weise zu erzählen? Um die Frage zu beantworten, ist es hilfreich, sich die Entstehungsgeschichte dieser Modelle vor Augen zu führen. Die meisten Storyboardchtheorien leiten sich von Paradigmen dramatischen Erzählens – also dramaturgischen Modellen für Theaterstücke – ab, als deren Übervater Aristoteles mit der von ihm verfassten „ Poetik“ gilt. Was haben erfolgreiche Geschichten gemeinsam? Gibt es etwas, was diese Geschichten verbindet? Gibt es etwas, das sie, so unterschiedlich sie auch sein mögen, teilen? Und so wie wir Menschen unterschiedlich in Wesen und Aussehen sind, jedoch alle ein Skelett haben, dessen einzelne Knochen, Sehnen und Knorpel an den gleichen Stellen sitzen, so gibt es bei dramatisch erzählten Geschichten sehr viele Ähnlichkeiten, was ihren Aufbau angeht. Dieses „Skelett“ bildet die Grundlage aller dramaturgischen Modelle. Es ist die Struktur einer Geschichte.
     
   Aber so, wie ein Skelett lediglich den menschlichen Körper stützt und nicht der Mensch selbst ist, so ist auch die Struktur einer Geschichte nicht die Geschichte selbst, sondern lediglich ein Ordnungsprinzip, das die Ereignisse der Geschichte in einen kausalen und zeitlichen Zusammenhang stellt.
    
   Versucht man, Figuren innerhalb eines dramaturgischen Modells agieren zu lassen, so folgt man damit scheinbar einem zuverlässigen „roten Faden“, der helfen soll, sich im Dschungel der noch unfertigen Geschichte zurechtzufinden. Nur um sehr schnell festzustellen, dass sich auf diese Weise zweidimensionale Figuren in einer formelhaften Geschichte bewegen und Entscheidungen treffen, die nicht ihrer eigenen Logik folgen, sondern vielmehr der des Autors, der versucht, eine funktionierende Geschichte zusammenzuschustern.
     
   Dramaturgische Modelle eignen sich sehr gut dazu herauszufinden, wo es in einer Geschichte hakt und warum – damit man sie anschließend überarbeiten kann. Als Anleitung zum Schreiben taugen sie nicht. Deshalb ist es am besten, sie während des Schreibprozesses zu vergessen. Wenn es dann darum geht, das Geschriebene zu verbessern, leisten sie gute Dienste.


Was sonst?

Wenn dramaturgische Modelle sich nicht als Rezept eignen, welche Möglichkeiten gibt es dann, Ideen und Figuren zu finden und sich einer Geschichte anzunähern?



Augen & Ohren auf

„Schau genau hin. Das ist der Weg, dein Auge zu schulen.
Schau hin, sei neugierig, höre zu, belausche.
Stirb nicht unwissend. Du bist nicht lange hier.“
Walker Evans

Vieles was um uns herum geschieht, ist für uns unverständlich, widersprüchlich oder schlicht „zu viel“. Um unseren Alltag besser zu bewältigen, lernen wir von klein auf, unsere Wahrnehmungen zu filtern. Wir sehen und hören Dinge, mit denen wir rechnen oder auf die wir uns vorbereitet haben. Ereignisse, die unsere Weltanschauung durcheinanderbringen oder ein Umdenken erfordern, oder die wir an einem bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Zeit nicht erwarten, blenden wir in der Regel aus.
   
   Um als Autor auf einen unerschöpflichen kreativen Fundus zurückgreifen zu können, müssen wir uns dieses, im Alltagsleben nützliche, aber bei unserer Arbeit als Autoren hinderliche Sozialverhalten abgewöhnen. Wir müssen erneut lernen, genau hinzuschauen und zuzuhören um das, was um uns herum geschieht, unvoreingenommen in uns aufzunehmen und damit die Bandbreite menschlichen Denkens, Handelns und Fühlens uneingeschränkt zu erfassen.

   
   Denn egal, wie exotisch die Orte unserer Geschichten und wie ungewöhnlich die Ereignisse, die unseren Charakteren zustoßen, auch sein mögen, letztlich basieren sie doch auf dem, was uns als möglich und realistisch erscheint – dem Spektrum menschlicher Erfahrungen, dem Leben selbst. Um als Autor aus einem Fundus menschlichen Verhaltens schöpfen zu können, ist es nützlich, die verlorengegangene Neugierde wiederzuentdecken.





Mit allen fünf Sinnen

Orte vermitteln, ähnlich wie Musik, auf sehr starke und unmittelbare Weise Stimmungen. Wenn wir versuchen, einen Ort zu beschreiben, beschränken wir uns aber meist auf faktische und visuelle Informationen: Wie groß sind die Räumlichkeiten? Wann wurde das Gebäude erbaut? Wie wird es genutzt und auf welche Weise hat sich die Nutzung im Laufe der Zeit verändert (z.B. ein Hotel in einem ehemaligen Kloster).
   
   Wenn wir stattdessen einen uns unbekannten Ort aufsuchen, stellen wir sehr schnell fest, dass das, was für uns diesen Ort ausmacht, sich an vielen einzelnen Dingen festmacht, die wir dort wahrnehmen und die weit über visuelle oder faktische Angaben hinausgehen. Um dem Leser des Storyboards einen möglichst plastischen Eindruck des Ortes zu vermitteln, der die Atmosphäre, die dort herrscht, treffend wiedergibt, ist es hilfreich, alle Sinne miteinzubeziehen, statt sich auf Fakten und rein visuelle Informationen zu beschränken.




Fühlen


Wenn wir eine Geschichte erzählen, stellen wir uns bestimmte Ereignisse vor und leiten daraus die möglichen Konsequenzen, bezogen auf die Figuren und die äußere Handlung, ab . Mindestens genauso wichtig wie die äußeren Ereignisse sind innere Vorgänge und emotionale Konsequenzen. Wie fühlt es sich an, wenn einem etwas Konkretes widerfährt oder man sich in bestimmten Lebensumständen wiederfindet? Im Alltag blenden wir diese Überlegungen und Emotionen aus; sie gelten als subjektiv und damit als unzuverlässig und wenig allgemeingültig. Für das Schreiben sind sie unersetzlich. Sie geben uns wesentliche Hinweise für die Geschichte und sind häufig ein Schlüssel für unsere Figuren.




Erinnern

„Schreibe über das, was du kennst.“
Mark Twain

Autoren, die sich in ihrer Arbeit auf eigene Erfahrungen stützen, haben einen großen Vorteil: Sie wissen, wovon sie sprechen. Ein erheblicher Teil ihrer Recherche begründet sich in der aktiven und wahrhaftigen Erinnerung dessen, was sie selbst erlebt haben. Sie kennen die widersprüchliche oder scheinbar unlogische Gefühlswelt ihrer Figuren.
   
    Denn Emotionen zeichnen sich dadurch aus, das sie manchmal (scheinbar) im Widerspruch zu einer äußeren, objektiven Realität stehen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn wir angesichts eines langersehnten Ereignisses aus scheinbar unerklärlichen Gründen Angst, Unbehagen oder Traurigkeit empfinden, statt uns, wie erwartet, zu freuen.

   
    Ein weiteres Merkmal von Gefühlen ist, dass wir sie nicht kontrollieren können. Kein Mensch kann sich vornehmen, was er unter bestimmten Bedingungen empfinden wird. Und häufig ist das, was wir tatsächlich in einer bestimmten Situation empfinden, völlig verschieden von dem, was wir uns für diesen Fall vorgestellt haben.

  

    Aber wie können sich Autoren in ihrer Arbeit auf eigene Erfahrungen stützen, ohne sich bei ihren Geschichten auf autobiografische Ereignisse zu beschränken? Eine Möglichkeit besteht darin, einen „Zipfel zu erhaschen“, indem man eigene Erfahrungen, die auf emotionaler Ebene vergleichbar sind, so unverfälscht wie möglich erinnert und sie dann auf die Geschichte und ihre Figuren überträgt.
   
   Besonders anschaulich lässt sich diese Methode erklären, wenn wir sie auf Geschichten anwenden, deren Umstände oder Erfahrungen die der meisten Menschen sprengen. Erfahrungen, die wir nie gemacht haben und voraussichtlich auch nie machen werden, können wir nicht autobiografisch erzählen und müssen gezwungenermaßen auf eine Technik zurückgreifen, die es uns ermöglicht, uns dem Geschehen und den damit verbundenen Emotionen anzunähern. Die wenigsten unter uns haben zum Beispiel die Erfahrung gemacht, wie es ist, an Leib und Leben bedroht zu sein. Das genau aber ist die Grunderfahrung einer Hauptfigur in einem Thriller. Woher kann man als Autor wissen, was die Figur in den einzelnen Momenten empfindet und wie sie entscheidet, wenn sie um ihr Leben fürchten muss? Wie kann man die Figur und ihre Geschichte schreiben, wenn man selbst diese Erfahrung noch nie gemacht hat? Eine gute Möglichkeit besteht darin, sich an eine Situation zu erinnern, die im Nachhinein betrachtet möglicherweise völlig harmlos war. Aber die sich, während sie uns widerfahren ist – und wenn auch nur für einen Moment – so angefühlt hat, als wären wir an Leib und Leben bedroht gewesen.
   
   Sobald wir uns aktiv daran erinnern und uns unsere Gedanken, Gefühle und unmittelbaren Impulse in diesem Augenblick vergegenwärtigen, erhalten wir einen Zugang zu unserem Protagonisten und zu der Geschichte, die wir erzählen möchten. Wesentlich ist dabei, dass wir diese Erinnerung nicht nur intellektuell, das heißt ausschließlich „mit dem Kopf“ vollziehen. Nur wenn wir ein Ereignis oder eine Situation mit allen unseren Sinnen erinnern und wahrnehmen, können wir die widersprüchlichen oder unerwarteten Gefühle entdecken, die diese in uns auslösen.
   
   Es geht darum, sie in unserer Erinnerung zu durchleben, um uns durch unsere eigenen Emotionen, Gedanken und Impulse denen unserer Figur anzunähern. Wir stellen auf der Ebene einer subjektiven, emotionalen Realität eine Übereinstimmung zwischen unserer erlebten Situation und der unseres fiktiven Protagonisten her. Diese Technik erleichtert es ungemein, wahrhaftige Charaktere zu erschaffen, deren Reaktionen und Handlungen für die Leser glaubwürdig und nachvollziehbar sind.

Recherche

Während das aktive Erinnern subjektiv ähnlicher Situationen, samt der damit verbundenen Emotionen, eine Form der inneren Recherche darstellt, garantiert eine äußere Recherche, dass Sie als Autor – auch was die objektiven Fakten angeht – wissen, wovon Sie sprechen.

   Möglichst alles über die Figuren, ihre Welt, die Ausgangssituation, bzw. den Grundkonflikt zu wissen, schafft darüber hinaus Selbstvertrauen und gibt die Sicherheit, dass man den Figuren und ihrer Geschichte gerecht wird. Vorsicht ist geboten, wo die Suche nach Informationen nicht enden will. Wenn Sie auch nach gründlicher Recherche nicht damit aufhören können, Bücher zu wälzen, Filme zu schauen und das Internet nach Erfahrungsberichten durchforsteten, sind Sie womöglich Ihrem inneren Zensor auf dem Leim gegangen, der Sie auf diese Weise erfolgreich davon abhält, Ihre Ideen niederzuschreiben. Bei nicht enden-wollen-den Recherchen ist auch deshalb Vorsicht angesagt, da man riskiert, sich in so kleinteiligen Details zu verlieren, dass einem die Geschichte, die man ursprünglich einmal erzählen wollten, schlicht abhanden kommt.


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